Ausgegrenzt und fast vergessen – Die Situation fliehender Menschen an der ungarischen Grenze.

Unsere letzte Station vor der Rückreise nach Deutschland war Subotica in Serbien, eine Stadt mit 140.000 Einwohner_innen, nahe der ungarischen Grenze. Hier wartete eine Situation auf uns, die in der Vorbereitung auf unser Projekt eine entscheidende Rolle eingenommen hat. Während der Projektplanung waren wir durch Zeitungsberichte auf die Situation in Serbien aufmerksam geworden, denn seit der Schließung der Grenzen zu Ungarn und Kroatien hat sich Serbien vom Transitland zu einer Art Sackgasse für Geflüchtete gewandelt.[1]

Viele Menschen leben außerhalb der offiziellen Camps nahe den Grenzen. Um Subotica herum haben sich an verschiedenen Orten kleine Lager gebildet in denen Flüchtlinge leben. Diese „Spots“ befinden sich irgendwo im Wald und bestehen aus sporadisch aufgebauten Zelten oder verlassenen Häuserruinen, in denen die Menschen schlafen und wohnen. An einem Spot leben zwischen 20 und 80 Personen. Staatliche Unterstützung kriegen die Menschen hier nicht. Demensprechend schlecht ist auch die Lebenssituation der Menschen vor Ort. Viele leiden an Krankheiten, wie Krätze oder Durchfall, die durch mangelnde Hygiene hervorgerufen werden. Im Winter leiden die Menschen außerdem unter der Kälte. Die wenigsten kommen mit winterfester Kleidung und Schuhen, die gegen Kälte und Feuchtigkeit schützen. Wer selber nicht mehr das Geld hat um sich auszustatten, ist auf die Unterstützung der NGOs angewiesen.

Diese Orte im „Jungle“, wie sie genannt werden, sind außer den Flüchtenden auch einer Hand voll Hilfsorganisationen bekannt. Diese kommen fast täglich vorbei und bieten den Menschen eine notdürftige Versorgung von den notwendigsten Bedürfnissen (Essen, Trinken, Hygiene, Gesundheit, Kleidung) an. Eine NGO, die sich um die Menschen kümmert, ist der deutsche Verein Rigardu. Unser Plan war ursprünglich vier Wochen bei Rigardu zu sein, doch der kleine Verein war im November überbesetzt. Freiwilligenarbeit langfristig zu planen, ist häufig kompliziert. Stattdessen besuchten wir Rigardu auf dem Rückweg und halfen ein paar Tage vor Ort. Bereits auf dem Hinweg im September nach Griechenland hatten wir das Projekt als Herberge für eine Nacht genutzt. Damals war das Team noch in Sid an der kroatischen Grenze stationiert. Dort ergibt sich ein ähnliches Bild, wie an der ungarischen Grenze.

Doch was macht Rigardu überhaupt?

Rigardu fährt täglich mit einem 1000 Liter Wassertank und einem mobilen Duschsystem zu den Spots nahe der ungarischen Grenze. Für die Menschen bietet Rigardu neben einer, meist warmen, Dusche auch frische Socken, T-Shirts und Unterhosen an. Außerdem alle möglichen Hygieneartikel, wie Zahnbürsten, Rasierer oder Seifen; Trinkwasser kann auch vom großen Tank abgefüllt werden. Meistens haben die freiwilligen Helfer_innen auch eine Autobatterie dabei, an der die Menschen ihre Smartphones laden können. Mittlerweile hat Rigardu das Angebot erweitert und verteilt auch lange Unterhosen und Pullover, um den Bedingungen im Winter gerecht zu werden. Neben unserer Hilfe vor Ort, konnten wir das Projekt noch mit einer Geldspende des Münchener Vereins „Haderner G´sellschaft“ unterstützen. Davon konnten ein neuer größerer Durchlauferhitzer, eine stärkere Pumpe, eine neue Autobatterie, kurze und lange Unterhosen gekauft werden.

Wer harrt an diesen Grenzen aus und woher kommen die Menschen?

Da sich ein Großteil der Menschen – die in den Spots leben – nie in Serbien registriert hat, ist es schwer genaue Informationen über ihre Herkunft, ihr Alter, ihr Geschlecht und die Anzahl der Menschen zu sagen. Schätzungen des Asylum Protection Center in Belgrad zufolge leben aktuell 4000 Geflüchtete in Serbien auf der Straße.[2] Durch unsere persönlichen Erfahrungen und die Berichte anderer Freiwilliger vor Ort lässt sich zu diesen Angaben folgendes sagen: Es sind fast ausschließlich männliche Geflüchtete, das Alter der Meisten liegt zwischen zwölf und dreißig Jahren. An der ungarischen Grenze kommen die Meisten aus Pakistan. Geflüchtete aus Afghanistan und Nepal haben wir auch angetroffen.  An der kroatischen Grenze sind laut Rigardu vor allem Menschen aus Afghanistan, Algerien, Tunesien und Marokko. Im Vergleich zu Griechenland stellte sich somit ein ganz anderes Bild dar. Dort waren neben afghanischen Menschen, Geflüchtete aus Syrien und dem Irak die größten Gruppen. Ungarn und Kroatien lassen jeweils um die 10 Geflüchteten pro Tag über die Grenzen.[3] Ungarn hält die Menschen in sogenannten Transitzonen hinter der Grenze fest, bis über ihren Asylantrag entschieden wird. Wenn man nicht aus Syrien oder dem Irak kommt, ist die Chance Asyl zu kriegen gleich null. Deswegen versuchen die Flüchtenden illegal über die Grenze zu kommen und ohne von der Polizei aufgegriffen zu werden in Länder zu kommen, wo die Chance Asyl zu erhalten größer ist. Außerdem sind es die ärmsten Menschen, die es auf eigene Faust versuchen. Flüchtende mit Geld können Schmuggler bezahlen, die sie über die Grenze bringen.[4]

Menschenrechtsverletzungen

Wie lange die Menschen in Serbien bleiben müssen, hängt davon ab, wie viel Glück sie bei der Grenzüberquerung haben. Berichten zufolge versuchen es einige bis zu sechzig Mal. Wenn Geflüchtete vom „Game“ an der Grenze, wie sie es selbst nennen, zurückkommen, berichten sie von Gewalt, die die Polizeikräfte ausüben. Es kommt zum Einsatz von Kampfhunden und Schlagstöcken, teilweise nimmt die Polizei den Menschen Wertgegenstände und Geld weg.[5] Betroffen sind laut Berichten von Ärzte ohne Grenzen auch viele Minderjährige (siehe unter: http://www.msf.org/sites/msf.org/files/serbia-games-of-violence-3.10.17.pdf). Rigardu, Ärzte ohne Grenzen und weitere Organisationen dokumentieren die Menschenrechtsverletzungen (für weitere Informationen: https://www.borderviolence.eu/violence-reports/). Hierfür interviewen sie die Menschen und fotografieren die Verletzungen. Des Weiteren wird – laut Augenzeugenberichten – die Absicht der Flüchtenden Asyl zu beantragen von der ungarischen und kroatischen Polizei ignoriert. Nach der Erniedrigung durch Gewalt werden die Geflüchteten von der Polizei wieder zurück zur Grenze gebracht und nach Serbien geschickt. Diese Handlung wird als „push-back“ bezeichnet und ist völkerrechtswidrig.[6]  Es liegt die Vermutung nahe, dass all diese Geschehnisse nicht auf Fehlverhalten einzelner Polizist_innen zurückzuführen sind, sondern strukturell bedingt sind. Die Nachricht der kroatischen und ungarischen Regierung an die Schutzsuchenden ist eindeutig: Ihr seid hier nicht willkommen! Dabei verstoßen die beiden EU-Mitgliedsstaaten sowohl gegen die EU-Grundrechtcharta, als auch gegen die allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In beiden Erklärungen ist ein Verbot der Folter (EU: Art. 4, UN: Art. 5), das Recht auf Unversehrtheit (EU: Art. 3), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (UN: Art. 3) und das Recht auf die Beantragung von Asyl (EU: Art. 18, UN: Art. 14) festgelegt. In Artikel 19 Absatz 1 der EU-Charta werden „Kollektivausweisungen als nicht zulässig“ beschrieben. In Artikel 9 der UN-Charta wird ein „Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Ausweisung“ festgelegt. Somit richtet sich die Kritik nicht nur an die Regierungen von Kroatien und Ungarn, sondern an die Mitgliedsstaaten der europäischen Union, die dieses Verhalten nicht tolerieren sollten.

Auf der serbischen Seite der Grenze haben die Menschen ebenfalls Angst vor der Polizei. Berichten zufolge komme die Polizei in unregelmäßigen Abständen mit Bussen zu bekannten „Spots“ und prügele die Flüchtenden, die nicht schnell genug weglaufen können in die Busse und fahren sie in ein Camp in Presevo, was in Südserbien an der mazedonischen Grenze liegt.[7] Dies scheint sehr widersprüchlich, denn Serbien ist nicht daran interessiert, dass die Geflüchteten länger im Land bleiben. Eine mögliche Schlussfolgerung könnte sein, dass es sich hier um Schikane handelt. Schikane um andere Menschen abzuschrecken zu versuchen diesen Weg nach Mitteleuropa einzuschlagen. Und auch Serbien schickt Menschen, die schon in Rumänien, Bulgarien oder Griechenland registriert waren, wieder zurück.[8]

All die beschriebenen Faktoren führen dazu, dass es den Menschen auch psychisch sehr schlecht geht. Die Situation scheint für viele Betroffene aussichtslos. Immer häufiger sprechen die Betroffenen davon, wie Tiere oder schlechter als Tiere behandelt zu werden. Nicht wenige greifen in dieser Situation zu Alkohol und anderen Drogen.[9]

Tragödie an der Grenze

Im Dezember kam es zu einer Tragödie. Nachdem die afghanische Mutter Muslima Hussiny mit sechs ihrer zehn Kinder die Grenze zu Kroatien überquert hat, wurde sie von der Polizei gegen acht Uhr abends aufgegriffen. Sie erzählte, dass sie aus Afghanistan seien und Asyl beantragen wollen. Dies verweigerten die Polizisten und sagten ihr, dass sie umkehren müsse. Auch die Bitte wurde abgelehnt bis Morgen zu warten, wenn es wieder hell sei und die Familie wieder Kraft hätte um zurückzulaufen. Ihnen wurde gesagt, dass sie einfach den Bahnschienen folgen sollten. Diese würden sie nach Serbien bringen. Also liefen sie los um zurück nach Serbien zu kommen. Plötzlich wurden sie von einem Zug überrascht und die 6-jährige Tochter schaffte es nicht mehr rechtzeitig von den Gleisen, wurde überfahren und starb. Es dauerte 4 Tage nach diesem schrecklichen Unglück bis die Familie den Leichnam von den kroatischen Behörden ausgeliefert bekamen. Außerdem wurde es von den kroatischen und serbischen Behörden untersagt, dass sie nach den Regeln des Islams bestattet wurde. Die 17-jährige Schwester sagte nach dem Vorfall: „Wieso denken die das wir Tiere sind? Wir sind auf der Suche nach einem guten Leben. Sind wir deshalb schuldig? Ich glaube nicht!“[10]

Es sind Geschichten wie diese, die uns vor Augen führen, wie dramatisch die Situation ist und das seit der Schließung der Balkan-Route und der veränderten Grenzpolitik kein einigermaßen sicherer Weg für Schutzsuchende nach Europa existiert. Selbst Kinder, die besonders schutzbedürftig sind, sind auf der Flucht allen Gefahren ausgeliefert. Karl Kopp von Pro Asyl bezeichnet die Geschehnisse an den Grenzen als „schwerste Menschenrechtsverletzungen“ und „völkerrechtswidrige Zurückweisung“. „Das Asylrecht ist de facto außer Kraft gesetzt, es herrscht das Gesetz des Dschungels“, führt Kopp weiter aus. Das Schließen der Balkanroute habe zudem die Schlepperbanden und Gangs wieder groß gemacht, so der Europa-Referent.[11] Diese These belegt auch ein Bericht des Spiegels vom 28.12.2017: „Offenbar spielt aber die Balkanroute weiterhin eine große Rolle: Migranten, die etwa in Griechenland angekommen sind, reisen erst Monate oder Jahre später weiter nach Deutschland. Dass die monatliche Zahl von 15.000 Neuankömmlingen relativ stabil ist, deutet darauf hin, dass das Schlepperwesen sich auf diese Kapazität eingependelt hat.[12]

Wie haben wir die Situation erlebt?

Leider waren wir nicht solange in Serbien vor Ort, wie ursprünglich geplant. Aber auch in den drei Tagen war der Eindruck sehr intensiv. Wir hatten vorher schon Bilder und Berichte gesehen, wie es um die Situation der Menschen bestellt ist. Dies war aber kein Vergleich zu dem Moment, in dem man mit eigenen Augen sieht, wie die Menschen dort leben: Irgendwo im Wald, der schon zugemüllt ist durch all diejenigen, die hier auf ihre Chance gewartet haben nach Europa zu gelangen; in Zelten aus Stoffdecken und Planen; ohne fließendes und sauberes Wasser und ohne sanitäre Einrichtungen. Nach 4 bis 5 Stunden an der frischen Luft, war mir Anfang Dezember sehr kalt und ich war froh wieder in ein warmes beheiztes Haus zu kommen und freute mich auch schon auf eine warme Dusche. Wie viel Luxus das ist und wie wenig selbstverständlich das für andere Menschen ist, war mir noch nie so sehr bewusst, wie in den Wäldern von Serbien. Die Situation von Geflüchteten ging mir auch noch nie so nahe wie in diesem Moment. Ein Fernseher oder eine Zeitung können eben nicht so viel Verständnis und Mitgefühl schaffen, wie etwas mit eigenen Augen zu sehen und mit Menschen zu sprechen, die in dieser Situation leben müssen. Nicht nur mit erwachsenen Menschen, sondern mit Kindern! Mit einem 15-jährigen Jungen aus Afghanistan zum Beispiel, der seine Eltern verloren hat und ganz alleine auf der Flucht war. Ich musste daran denken, was ich mit 15 gemacht habe. Selten kam mir die Welt so ungerecht vor. Erst jetzt konnte ich verstehen, warum Geflüchtete davon sprechen, wie Tiere und nicht wie Menschen behandelt zu werden.

Zum Glück sind einige NGOs vor Ort und unterstützen die Menschen in ihrer aussichtslosen Lage. Ohne das große zivilgesellschaftliche Engagement der vielen Helfer_innen könne das gar nicht funktionieren, betont Karl Kopp von Pro Asyl. „Auf den Fluchtrouten sind Hunderte Organisationen vor Ort und retten, was zu retten ist, weil die Europäische Union nicht in der Lage dazu ist. Und das ist bitter“, sagt Kopp, „es macht mich fassungslos“.[13] Ich denke dieser Aussage können wir uns anschließen!

Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Vorgehen an der EU-Außengrenze zu Serbien zeigt, dass die Werte, denen sich die EU verschrieben hat, Grenzen haben. Dies ist aus unserer Sicht umso beschämender, wenn diese Rechte Menschen verwehrt bleiben, die auf der Flucht und der Suche nach Schutz vor Krieg und Gewalt sind.

Maximilian Behrens

P.S. Wer mehr über die Arbeit von Rigardu wissen will, kann den Beitrag vom Verein selber zur aktuellen Situation im Winter lesen. (https://rigardu.de/2018/02/12/im-winter-von-allem-ein-bisschen-mehr/)

Quellen:

[1] https://www.pri.org/stories/2018-01-03/migrants-stuck-serbia-play-desperate-game-reach-eu

[2] http://www.luzernerzeitung.ch/nachrichten/international/das-gefaehrliche-spiel-der-fluechtlinge;art178474,1163635

[3] https://www.swr.de/swraktuell/fluechtlingssituation-in-ungarn-umzaeunte-lager-mit-stacheldraht/-/id=396/did=20235638/nid=396/1il2vzs/index.html

[4] https://www.pri.org/stories/2018-01-03/migrants-stuck-serbia-play-desperate-game-reach-eu

[5] http://www.deutschlandfunkkultur.de/fluechtlinge-in-serbien-ein-leben-ohne-viel-hoffnung.2165.de.html?dram:article_id=391683

[6] https://www.proasyl.de/news/fluechtlinge-werden-auf-der-balkanroute-immer-noch-opfer-von-brutaler-gewalt/

[7] http://www.deutschlandfunkkultur.de/fluechtlinge-in-serbien-ein-leben-ohne-viel-hoffnung.2165.de.html?dram:article_id=391683

[8] https://www.upi.com/Europes-refugee-frontier-pushbacks-border-closures-in-Serbia/5321490709427/

[9] https://www.pri.org/stories/2018-01-03/migrants-stuck-serbia-play-desperate-game-reach-eu

[10]https://www.pri.org/stories/2018-01-03/migrants-stuck-serbia-play-desperate-game-reach-eu

[11] https://www.berliner-zeitung.de/28721318

[12] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-so-war-2017-und-so-wird-2018-a-1184058.html

[13] https://www.berliner-zeitung.de/28721318